Studierende stehen zwischen einem Seminarraum und Schließfächern beeinander

Über Behinderungsbegriffe: Eine essayhafte Annäherung an einen komplizierten Begriff

Was kann „Behinderung“ bedeuten?

Obgleich „Behinderungen“ an einigen Stellen einige rechtliche und für viele Menschen eine erhebliche alltägliche Relevanz besitzen: Eine allgemein anerkannte, fächerübergreifende Definition von „Behinderung“, die kontextunabhängig anwendbar wäre, gibt es bislang nicht. Der Begriff ist mit vielen – häufig vordringlich negativen – Vorstellungen und Assoziationen verbunden und wird kontrovers, teils auch sehr emotional, diskutiert. 

Nicht nur, dass ein großes Spektrum an verschiedenartigen Phänomenen hier unter einen Begriff gefasst werden soll – fachlich ist es sogar Gegenstand eines Grundsatzstreits, woran der Begriff der Behinderung anknüpfen soll: Sollen gesundheitliche Merkmale betroffener Menschen, beziehungsweise individuelle Defizite, den Kern der Definition ausmachen, oder sollen vielmehr soziale Gegebenheiten – also (scheiternde, versagte) Teilhabe und Diskriminierung – ausschlaggebend sein? Die Grenze zwischen „erkrankt“ und „gesund“ ist schließlich nicht immer leicht zu ziehen: Wer sollte die zugrundeliegenden (Normalitäts-) Maßstäbe definieren dürfen? Ausgehend von diesem Fragenkomplex haben sich unterschiedlichste Behinderungsmodelle herausgebildet, die sich grob in zwei Richtungen oder „Familien“ einteilen lassen.   

Das medizinische Modell (sowie individuelle und defizitorientierte Modelle) gehen typischerweise davon aus, dass eine alltagsrelevante gesundheitliche Beeinträchtigung aufseiten des Individuums – also eine erhebliche und dauerhafte Störung der körperlichen oder mentalen Gesundheit – die Behinderung wesentlich verursacht. Der Zustand des einzelnen betroffenen Menschen wird insofern als problematisch, behandlungsbedürftig – oder anderweitig überwiegend negativ – angesehen. Abhilfemöglichkeiten bestehen dementsprechend primär in der bestmöglichen medizinischen Behandlung der Patient*innen aufgrund ihrer Erkrankungen sowie in der Anpassung von Hilfsmitteln.

Soziale und kulturelle Modelle bilden eine „Modellfamilie“ (nach Tom Shakespeare) mit unterschiedlichen Mitgliedern, wobei Akzentsetzung und theoretische Grundlagen stark variieren können. In dieser Gruppe finden Sie darum noch eine Vielzahl weiterer Ansätze, die unter unterschiedlichen Bezeichnungen bekannt geworden sind. Diese Modelle entstanden aus den Emanzipationsbewegungen behinderter Menschen ab den Siebziger Jahren. 

In scharfem Kontrast zum „medizinischen Modell“ verorten sie Behinderung nicht im Individuum, sondern im Gesellschaftssystem und seiner Kultur. Entscheidend dafür, dass eine bestimmte Eigenart eines Menschen – eine spezifische Funktionsweise des Körpers, der Psyche oder des Geistes – eine Behinderung darstellt, ist demnach die soziale Reaktion auf diese Eigenart: Stellt sich die Gesellschaft nicht ausreichend auf Menschen mit einer derartigen Eigenschaft ein, reagiert sie mit Ausgrenzung und Diskriminierung oder verwehrt ausreichende Unterstützungsleistungen, entsteht – diesem Ansatz zufolge – aus einem ursprünglich unbedenklichen Merkmal eine Behinderung, die den betroffenen Menschen belastet. 

Dieser Ansatz beruht auf zwei Voraussetzungen: Erstens geht er wesentlich auf die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen, mit Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung zurück und fordert soziale Veränderungen ein. Zur Gestaltung solcher Veränderungen wurde er im Wesentlichen auch initiiert. Wenn sich die Gesellschaft sich auf die Eigenarten all ihrer (gleichberechtigten) Mitglieder einstellen würde, weshalb sollten Menschen dann in ihrer Lebensführung noch „behindert“ sein – und Vorteile ihres Zustandes, die wir heute etwa als „Kompensationsleistungen“ beschreiben, nicht zu ihren Gunsten nutzen können? Der Ausfall eines Sinnes kann zum Beispiel die übrigen Sinne schärfen, eine psychische Beeinträchtigung kann einen Menschen unter Umständen sensibler für die Bedürfnisse anderer machen und dergleichen mehr.

Zweitens geht der Ansatz davon aus, dass es prinzipiell möglich sei, eine „Gesellschaft“ (oder soziale Welt) zu schaffen, in der Menschen entlang der ganzen Vielfalt ihrer körperlichen oder psychischen Verfassungen gleichberechtigt und ohne besondere Beschwernisse zusammenleben können. Inwieweit körperliche oder psychische Beeinträchtigungen in solchen Modellen noch als ursächliche Faktoren für Behinderungen gelten (können), darauf gibt es viele divergierende Antworten. Ebenso umstritten ist, ob eine derartige Umgestaltung der sozialen Verhältnisse prinzipiell (widerspruchsfrei) denkbar, oder gar praktisch zu verwirklichen ist. Zudem variieren die zugrunde gelegten Vorstellungen von „Gesellschaft“, „(Menschen-)Rechten“, „Staat“, „Kultur“ etc. erheblich: Eine Modellfamilie entsteht.

Soziale und kulturelle Modelle entstammen wesentlich den Anliegen und sozialen Bestrebungen der Behindertenbewegung. Ein eher medizinisches Modell prägte lange die Perspektive des Gesundheits- und Sozialsystems auf behinderte Menschen. Inwieweit es „der Medizin“ als solcher zugeschrieben werden kann, ist nicht zuletzt aufgrund der Methodenvielfalt medizinischer Disziplinen und der Mitberücksichtigung (einiger) sozialer Faktoren in medizinischem Denken und Handeln gleichfalls umstritten. Eine pauschale Beurteilung der unterschiedlichen Perspektiven auf Behinderung verbietet sich an dieser Stelle – sie erfordert eine differenziertere Auseinandersetzung 

Moderne Behinderungsbegriffe beziehen meist sowohl soziokulturelle als auch gesundheitliche und medizinische Faktoren mit ein und bemühen sich – mit diskutablem Erfolg – um eine Mittelstellung zwischen beiden Ansätzen. Ein einflussreiches dreistufiges Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass eine Behinderung auf Basis einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung entsteht, welche (zweitens) die betroffenen Menschen in ihrem Agieren einschränkt und sie (drittens) an ihrer sozialen Teilhabe im Alltag hindert – und somit eine Behinderung verursacht. 

Die Abgrenzung zwischen „behindert“ und „chronisch krank“ (für sich genommen ebenfalls ein definitionsbedürtiger Begriff) verweist auf weitere Probleme. Die Erfahrung aus der Praxis an Hochschulen zeigt, dass einige betroffene Menschen sich lieber als „chronisch krank“ denn als „behindert“ beschreiben – in geringerem Maße kommt dies auch umgekehrt vor. Konzeptkritisch betrachtet setzen die meisten Behinderungsbegriffe zumindest implizit eine dauerhafte „Erkrankung“ voraus.

Für die Arbeit an der Hochschule ist die Definition des deutschen Sozialrechts entscheidend, die sich mittlerweile im Wesentlichen an der UN-Behindertenrechtskonvention orientiert. Diese verweist darauf, dass „Behinderung“ ein sich entwickelnder Begriff („evolving concept“) sei und definiert anschließend stattdessen den Begriff „Menschen mit Behinderungen“. Dabei wird sowohl auf soziale als auch auf individuelle Merkmale zurückgegriffen und deren – nicht näher explizierte– Wechselwirkung betont.

Sich mit der Diskussion um eine adäquate Konzeption von Behinderung auseinanderzusetzen, kann vielfältige praktische Konsequenzen haben und auch die eigene Lebensführung – ob nun mit oder ohne Behinderung – bereichern. In den hier skizzierten Diskussionen und Konflikten ein „abschließendes“ Urteil fällen zu wollen kann nicht Aufgabe des Arbeitsbereichs Inklusion sein. Als Teil der Universitätsverwaltung wenden wir die geltenden rechtlichen Definitionen an und bemühen uns im Übrigen darum, der Vielfalt an Auffassungen über Behinderungen, ihre Ursachen und ihre Folgen angemessen Rechnung zu tragen.

Für diese Überblicksdarstellung: Christoph Trüper.

Die UN-Behindertenrechtskonvention definiert:

„Menschen mit Behinderungen“

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Für Ihre individuellen Fragen

Kontakt

Beratung für Studierende mit Einschränkungen
Advice and Support for Students with Health Issues

Fr. Kirsten Brandenburg und 
Fr. Christina Rahn
E-Mail: barrierefrei@uni-frankfurt.de

Zur Online-Terminvereinbarung

Campus Westend
Gebäude PEG
Theodor-W.-Adorno-Platz 6
60323 Frankfurt am Main


Für Fragen zum Konzept:

Christoph Trüper (M.A.)

Referent für Inklusion
trueper@em.uni-frankfurt.de


Politik und Alltag: Aus der gegenwärtigen Debatte

Behinderung bewegt

Der Europarat berichtet über Begriffsdiskussion, Behindertenbewegung und Behindertenrechte (Englisch).

Inklusion im Lexikon

DWDS definiert 'Inklusion'

Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) definiert "Inklusion" und widmet ihr im Januar 2023 einen Artikel des Tages. Eine anschauliche Begriffsauskunft, mit Textbeispielen bis in die Mathematik. 


Aus US-amerikanischer Perspektive

Behinderungsbegriff und Beispiele (CDC)

Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC erläutert ihr Behinderungsverständnis und gibt Beispiele (Englisch).