Katalanische Literatur

Dass die katalanische Literatur eine der bedeutenden Literaturen Europas ist, die mit ihren besten Autoren und Werken qualitativ auf dem Niveau der anderen romanischen Literaturen (etwa der französischen, portugiesischen, spanischen, italienischen und rumänischen) steht, dringt erst wieder mit dem Ende der Franco-Ära verstärkt ins europäische Bewusstsein. Auch was die Quantität und die regelmäßige Streuung großer Werke über das letzte Jahrtausend hin betrifft, ist die katalanische Literatur mit der Mehrzahl der anderen romanischen Literaturen (vielleicht mit Ausnahme der französischen und italienischen) vergleichbar, die ihre ausgesprochenen Höhen und Tiefen sowie ganze Epochen geringer literarischer Produktion gehabt haben - was im übrigen auf die meisten Literaturen der Welt zutrifft.

Die katalanische Literatur besitzt bereits im 13. Jahrhundert einen in der europäischen Literaturgeschichte einmaligen Höhepunkt in der Gestalt von Ramon Llull (Ciutat de Mallorca 1232-1316). Nach den um 1200 entstandenen Predigttexten Homilies d'Organyà - dem ältesten erhaltenen literarischen Zeugnis katalanischer Sprache - hat die Literatur in Katalonien das Glück, in Llull ihren Begründer und Meister zugleich zu finden. Llulls Entschluß, als sprachliches Medium nicht mehr das Lateinische, sondern die natürliche Sprache des Volkes zu verwenden, hob das Katalanische (30 Jahre früher, als es Dante für das Italienische gelang) endgültig in den Rang einer Literatur- und Wissenschaftssprache. Bereits durch den katalanischen Königshof und die Expansion am westlichen Mittelmeerrand nach Süden und auf die Balearen hatte das Katalanische als Schriftsprache großes Prestige gewonnen - wahrscheinlich zusätzlich beeinflußt durch das sehr nah verwandte Okzitanische, der Sprache provenzalischer (und katalanischer) Dichter seit dem 12. Jahrhundert.

Was Ramon Llull betrifft, so hat er über 260 Werke hinterlassen, darunter bedeutende katalanische Romane wie Bla(n)querna oder Fèlix o Llibre de meravelles. Die in ihnen enthaltenen literarischen Kostbarkeiten, insbesondere das Llibre d'amic e amat (Buch vom Liebenden und Geliebten) und das Llibre de les bèsties (Buch der Tiere) - in denen sich Llulls Kenntnis der lateinischen und arabischen Tradition, seine Vertrautheit mit der Liebeslyrik der Trobadors und sein großes schöpferisches Genie zeigen - gehören zu den Glanzpunkten mystischer Erzählkunst in Katalonien. Zu den bedeutenden philosophisch-theologischen Werken Llulls zählt die frühe Art d'atrobar veritat (wörtlich: Die Kunst, Wahrheit zu finden) - ein Schlüssel zur genauen Ordnung allen Wissens, eine Wissenschaft der Wissenschaft sozusagen. In seinen späteren Werken entwickelt der Mallorquiner, mit dem Ziel alle Menschen noch so verschiedenen Glaubens zu einem gemeinsamen Denkgebäude und einem friedvollen Zusammenleben zu führen, eine neue Methode der Kombinatorik, die bis heute die Logiker fasziniert und Llull als Vorläufer für Computersprachen erscheinen läßt. Llulls fundamentales philosophisches Werk ist seine immer wieder neu geschriebene Ars Magna (Die Große Kunst), die Hunderte von Gelehrten, darunter so hervorragende Denker wie Giordano Bruno, Nikolaus von Kues und Leibnitz, beeinflußte.

Das 13. und 14. Jahrhundert ist auch die Entstehungszeit der herausragenden Katalanischen Chroniken - eindrucksvolle Zeugnisse stilistisch bereits weit entwickelter Geschichtsschreibung. Zunächst (im dritten Viertel des 13. Jh.s) schrieb König Jaume l. (Montpelhièr 1209 - València 1276) seine Chronik; wenig später (bis 1288) folgte der Chronist Bernat Desclot mit seinem Werk, Anfang des 14. Jahrhunderts verfaßte der Hofmann, Diplomat und militärische Führer Ramon Muntaner (Peralada 1265 - Eivissa 1336) seine großartige Chronik, und ab 1363 entstand der Bericht des katalanischen Königs Pere III. (Balaguer 1319 - Barcelona 1387). Alle 4 Texte, aus denen bis auf den heutigen Tag die Stimme eines unabhängigen und blühenden Kataloniens spricht - zu Beginn der historischen Epoche Kataloniens als großer Mittelmeermacht - berichten nicht nur große Ereignisse und »Heldentaten«, sondern gerade auch viele Details über Lebens- und Gesellschaftsformen der Menschen der damaligen Zeit. Auf dem Gebiet der Prosa des 13. und 14. Jahrhunderts ist ferner der gelehrte Arzt und phantastische Visionär Arnau de Vilanova (1238/40 - 1311) zu nennen, der zu (fast) allen Fragen seiner Zeit Stellung nahm.

Zu den herausragenden literarischen Persönlichkeiten des 14. und 15. Jahrhunderts gehört in erster Linie Francesc Eiximenis (Girona 1327 - Perpinyà 1409), der scharfsinnig über die sich anbahnenden sozialen Veränderungen der mittelalterlichen Gesellschaft reflektiert (vgl. insbesondere sein Buch Llibre de les dones, Buch über die Frauen). Großen Erfolg, vor allem in den breiten Volksschichten, hatte Vicent Ferrer (València 1350 - Gwened, »Vannes«, Bretagne, 1419), der seine auf katalanisch verfaßten Predigten im ganzen romanischsprachigen Europa verkündete. Anselm Turmeda (Ciutat de Mallorca 1352/55 - Tunis, nach 1423), der sich seit seinem Übertritt zum Islam Abd Alláh al-Mayurqui nannte (eine Namensform, die auf seine Herkunft aus Mayurca, d. h. Mallorca, hinweist), schrieb außer auf arabisch des weiteren Werke auf katalanisch, darunter das berühmte Llibre de bons amonestaments (Buch der guten Ratschläge), das in den Schulen Kataloniens bis ins 19. Jahrhundert als Schulbuch benutzt wurde, sowie die Disputa de l'ase (Das Streitgespräch des Esels).

Der erste Autor aller romanischen Literaturen, der einen Dialog platonischer Prägung schrieb, war Bernat Metge (Barcelona 1340/46 - 1413) mit Lo Somni (1399; Der Traum). Metge, der einen neuen Stil in der katalanischen Prosa durchsetzte, gilt außerdem als erster bedeutender Humanist der Iberischen Halbinsel. Mit Überraschung entdeckt man in seinem Werk feministisches Gedankengut avant la lettre.

Ein überragender Höhepunkt der katalanischen Literatur des 15. Jahrhunderts und ein Gipfelpunkt der Lyrik in der (Welt-)Literaturgeschichte ist das dichterische Werk von Ausiàs March (wahrscheinlich Gandia 1397 - València 1459). Stark beeinflußt von der Trobadordichtung des 12. und 13. sowie der italienischen des 14. Jahrhunderts, prägt March seinerseits maßgeblich die spanische und portugiesische Dichtung des 16. Jahrhunderts.

Auch auf dem Gebiet der Prosa erlebt die katalanische Literatur des 15. Jahrhunderts, ebenfalls ausgehend von València (und Gandia südlich València), einen markanten Höhepunkt: 1490 erscheint in València der katalanische Ritterroman Tirant lo Blanc (gedruckt von Nikolaus Spindeler, einem aus Zwickau in die Katalanischen Länder eingewanderten Deutschen), den Cervantes später in seinem Quijote als «bestes Buch der Welt« herausstellen läßt. In der Tat gehört dieser sich im ganzen Mittelmeerraum bewegende Roman, der auf Werken Llulls und besonders auf Muntaners schon genannter Chronik der katalanischen Expeditionen nach Athen und Konstantinopel fußt, zum »Besten«, was an katalanischer Prosa nach Llull und bis zum 19. Jahrhundert erschienen ist, und es ist sicherlich nicht übertrieben, Tirant lo Blanc als einen der schönsten Ritterromane aller mittelalterlichen Literaturen zu bezeichnen. Außergewöhnlich für die Literatur jener Zeit - und hierin liegt die unverbrauchte Frische und Modernität des Tirant - ist die freizügige Schilderung erotischer Szenen, die sich auch nicht scheut, intimste Körperteile und Aktivitäten direkt beim Namen zu nennen. Autor des Tirant ist Joanot Martorell (Gandia 1413/15 - 1468), ein Schwager von Ausiàs March, der 1460 mit der Niederschrift des Romans begann. Nach seinem Tode führte vermutlich Martí Joan de Galba das Werk zu Ende, starb aber selbst fünf Monate vor der Publikation. Zur 500-Jahr-Feier der Erstausgabe hat der Fischer Verlag den Tirant in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Ein weiterer interessanter katalanischer Ritterroman, bisher auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert, ist Curial e Güelfa.

Auf dem Gebiet des katalanischen Theaters jener Zeit (wo sich sehr viel mehr Texte erhalten haben als z. B. in der spanischen Literatur) ist speziell das Misteri d'EIx (Das Mysterienspiel von Marias Auferstehung) hervorzuheben, das noch heute jeden August im südlichsten katalanischen Sprachgebiet, in Elx, aufgeführt wird: das einzige europäische Theaterspiel, das sich seit dem Mittelalter in ununterbrochener Folge erhalten hat. Ein weiterer katalanischer mittelalterlicher (Gesangs-)Text, der bis heute jährlich aufgeführt wird (besonders zu Weihnachten auf Mallorca), ist der Cant de la Sibil.la, eine apokalyptische Warnung an die Menschheit.

Das 16. bis 18. Jahrhundert stellt in der katalanischen Literatur, bedingt durch die ungünstigen politischen Zustände, eine Epoche geringer Produktion dar. Gleichwohl haben eine Reihe katalanischer Schriftsteller auch in diesen Jahrhunderten bemerkenswerte Werke geschaffen. Zu nennen ist zunächst der 1515 in Barcelona erschienene allegorische Roman Espill de la vida religiosa (Spiegel des religösen Lebens; möglicherweise von Miquel Comalada geschrieben), der als europäischer Bestseller in mehr als 10 Sprachen übersetzt und in 50 Ausgaben verbreitet wurde. Beachtenswert ist ferner der Historiker und Schriftsteller Cristòfor Despuig (Tortosa 1510 - 1580), der in seinem Hauptwerk Los col.loquis de la insigne ciutat de Tortosa (1557; Die Gespräche in der Stadt T.) ein hochinteressantes Bild vom Katalonien seiner Zeit entwirft. Ein umfangreiches dichterisches Werk hat Joan Pujol (wahrscheinlich aus Mataró, vor 1550 - nach 1603) hinterlassen; darunter das mehr als 1500 Verse umfassende epische Gedicht La singular i admirable victòria (1573), das von der Seeschlacht und dem Sieg von Lepanto im Jahre 1571 handelt.

Berühmtester katalanischer Barockdichter war Francesc Vicenç Garcia (Tortosa 1579/82 - Vallfogona de Riucorb, 60 km nördlich von Tarragona, 1623) dessen burleske und erotische Gedichte von Hand zu Hand gingen und eine Fülle von Nachahmern bis ins 19. Jahrhundert hinein fanden. Eine weitere bemerkenswerte Persönlichkeit der katalanischen Literatur des 17. Jahrhunderts war Francesc Fontanella (Barcelona 1622 - Perpinyà 1680/85), (Sonett-)Dichter und insbesondere Autor zweier Theaterstücke: Amor, firmesa i porfia (1642 - 43; Liebe, Standhaftigkeit und hartnäckiges Werben) und Lo desengany (1651; Die Enttäuschung). Joan Ramis (Maó 1746 - 1819), bedeutendster Schriftsteller Menorcas jener Zeit, wurde mit seiner Tragödie Lucrècia (1769) berühmt. Was die Prosa des 18. Jahrhunderts anbelangt, so gilt der Calaix de sastre (Sammelsurium), ein hochinteressantes Tagebuch in 52 Bänden, als das herausragende Werk; geschrieben wurde es zwischen 1769 und 1816 von Rafael d'Amat i de Cortada, dem Baron von Maldà (Barcelona 1746 - 1818/19).

Von großer Wichtigkeit für die Geschichte der katalanischen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweist sich die europäische Bewegung der Romantik: sie führt zu einer breiten Zunahme literarischer Betätigung auf katalanisch, zur sogenannten Renaixença (»Renaissance«). Den Beginn dieser Epoche markiert die Ode La Pàtria (Das Vaterland, 1833) von Bonaventura Carles Aribau (Barcelona 1798 - 1862); gefolgt von der regelmäßigen Veröffentlichung der Gedichte von Joaquim Rubió i Ors (Barcelona 1818 - 1899) ab 1839. 20 Jahre später bekam die katalanische Literaturproduktion eine feste öffentliche Verankerung in Form eines jährlich im Mai abgehaltenen Dichtungswettbewerbs und -festivals, den Jocs Florals.

Der herausragende Dichter des 19. Jahrhunderts war Jacint Verdaguer (1845 - 1902), der mit seinen Epen Atlàntida (1876, auf deutsch: Atlantis, 1897 erschienen) und Canigó (1885) in die Spuren Homers, Virgils und Camões' tritt und zum katalanischen Nationaldichter wird. Àngel Guimerà (1845 - 1924) findet mit seinem Drama Terra Baixa (1896) in der Opernvertonung von Eugen d'Albert (Tiefland, 1903) großes internationales Echo und gilt - gefolgt von Frederic Soler (Pseudonym »Serafí Pitarra«, Barcelona 1839 - 1895), der mit seinen Theaterstücken ebenfalls große Popularität erreicht - als der überragende Theaterautor (in einer Zeit reicher katalanischer Theaterproduktion). Bedeutendster Romancier war Narcís Oller (Valls, nördlich Tarragona, 1846 - Barcelona 1930), dessen erster, 1882 publizierter Roman, La papallona (Der Schmetterling) bald danach mit einem Vorwort von Zola auf Französisch erscheint; sein berühmtestes Werk ist neben L'escanyapobres (1884; auf deutsch: Der Vampyr, 1920 und 1954) und Vilaniu (1885), der Roman La febre d'or (1890 - 92, Das Goldfieber), der die wirtschaftliche Dynamik im Barcelona der Gründerzeit zum Thema hat.

Etwa zur selben Zeit entsteht - unabhängig von Barcelona und Festlandkatalonien - auch auf Mallorca bedeutende katalanische Literatur, besonders Lyrik. Hervorzuheben sind die Dichter Miquel Costa i Llobera (Pollença 1854 – Palma, Mallorca 1922) und Joan Alcover (Palma, Mallorca 1854 - 1926), ferner Miquel dels Sants Oliver (Campanet, Mallorca, 1864 - Barcelona 1920), Dichter und Journalist, sowie Gabriel Alomar (Palma, Mallorca 1873 - Kairo 1941), Dichter und Essayist, der 1904 den Begriff »Futurisme« prägte, den dann Marinetti für Italien übernahm.

Barcelona steht in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (ab 1884) bis 1911 ganz unter dem Zeichen des Modernisme, der zunächst - angeregt vom deutschen Jugendstil - die katalanische Kunst und später auch die Literatur erfaßt. Eine reiche, alle Gattungen betreffende literarische Produktion und Rezeption setzt ein, bei der deutsche, französische und englische Literatur, aber auch Kunst, Musik und Philosophie entscheidende Anregungen geben. Herausragendster katalanischer Autor des Modernisme war der Dichter Joan Maragall (Barcelona 1860 - 1911), der viele Werke Goethes, Novalis', Nietzsches und Texte Wagners ins Katalanische übersetzte. Großer Aktivist jener Jahre, insbesondere durch die in Sitges (südlich Barcelona) veranstalteten happeningartigen »Festes Modernistes«, war der Schriftsteller und Maler Santiago Rusiñol (Barcelona 1861 - 1931). Unter seinen zahlreichen Theaterstücken, Erzählungen und Romanen ragt L'auca del Senyor Esteve (1907 als Roman, 1917 als Theaterstück) hervor, die Geschichte des Auf- und Niedergangs eines Geschäfts durch drei Generationen - ähnlich wie in den zur gleichen Zeit geschriebenen Buddenbrooks von Thomas Mann -, mit der Rusiñol die literarische Verkörperung des »typischen« Katalanen (des Sr. Esteve) gelang. Berühmt wurde ferner sein Reisebuch über Mallorca, L'illa de la calma (1922, Die Insel der Ruhe).

Die bedeutendste Schriftstellerin des Modernisme war Víctor Català (L'Escala, bei Figueres, 1869 - 1966), deren Werk Solitud (1905), wenige Jahre nach Erscheinen bereits auf deutsch publiziert wurde (Sankt Pons, 1909, S. Fischer Verlag). Weitere wichtige Romanautoren des Modernisme waren Raimon Casellas (Barcelona 1855 – Sant Joan de les Abadesses, bei Ripoll, 1910) mit seinem Hauptwerk Els sots ferèstecs (1901, Die wilden Gräber, 1909 als Lazarus' Tod auf deutsch erschienen), sowie Prudenci Bertrana (Tordera, bei Blanes und Lloret, 1867 - Barcelona 1941), dessen bekanntester Roman den Titel Josafat trägt (1906, auf deutsch 1918 erschienen).

Ab 1906 kam eine neue künstlerisch-kulturelle Bewegung auf, die den Modernisme allmählich verdrängte: der Noucentisme. Eine Welle der Rückbesinnung auf klassisch-mediterrane Kultur setzte ein und zugleich eine Welle der Konsolidierung und effektiven Organisation eines katalanischen Nationalismus, der sich als Alternative zum rückständigen Spanien verstand. Basis hierfür legte der katalanische Schriftsteller und Denker Eugeni d'Ors (Barcelona 1881 - Vilanova i la Geltrú, bei Sitges, 1954) mit seinen seit 1906 15 Jahre lang täglich erscheinenden Glossen, dem sogenannten Glosari. Zum Teil wurden sie als Buch zusammengefaßt erneut publiziert, wie z. B. in La Ben Plantada (1912; Die Stattliche), wo Ors das Bild einer "klassischen" Katalanin entwirft. Ebenfalls 1906 publizierte Josep Carner (Barcelona 1884 - Brüssel 1970), der neben Carles Riba (Barcelona, 1893 - 1959) glänzendste Dichter dieser Periode - beide haben großen Einfluß auf die Nachfolgegenerationen ausgeübt -, seinen ersten Gedichtband Els fruits saborosos (1906; Die köstlichen Früchte). Riba, der auch klassischer Philologe und Literaturwissenschaftler war, trat neben seiner großartigen Dichtung als Übersetzer hervor: noch heute verdanken ihm die Katalanen die besten Übersetzungen griechischer und lateinischer Klassiker ins Katalanische.

1906 erschien ein politisch bahnbrechendes Buch, La nacionalitat catalana (1906; Die katalanische Nation), ein von den Gedanken Herders und Fichtes stark beeinflußtes Werk des Präsidenten der Mancomunitat (einer Vorform der autonomen katalanischen Verwaltung), Enric Prat de la Riba (1870 - 1917). Neben all den zahlreichen literarischen Einzelleistungen verschiedenster Autoren verwirklichte der Noucentisme ein Kulturprogramm - institutionell abgesichert durch die Mancomunitat -, das auf breitester Ebene überaus bedeutsam für die katalanische Literatur und die katalanische Sprache wurde: 1906 fand in Barcelona der Erste Internationale Kongreß der katalanischen Sprache statt, und 1907 wurde die Katalanische Akademie der Sprache, das Institut d'Estudis Catalans, gegründet, das 1913 mit der Publikation der Normes ortogràfiques des Philologen Pompeu Fabra (Gràcia, Barcelona, 1868 - Prada [de Conflent] 1948) die einheitliche Normierung für die katalanische Sprache (ab 1917 als Diccionari ortogràfic in der Art des deutschen Duden) brachte. Fabras späterer Diccionari general de la llengua catalana (1932) wurde zum Standardlexikon des Katalanischen.

Ab 1916 wurde der Noucentisme, der bis in die 30er Jahre fortwirkte, sukzessive überlagert durch die Bewegung der Avantgarde: 1919 publizierte der Dichter Joan Salvat-Papasseit (Barcelona 1894 - 1924) seine Poemes en ondes hertzianes (Gedichte auf Hertzschen Wellen), 1923 den Liebesgedichtband El poema de la rosa als llavis (Gedicht von der Rose auf den Lippen). Berühmt wurden auch die surrealistischen Gedichte von Salvador Dalí (Figueres 1904 - 1989), die 1974 erstmalig auf deutsch erschienen (Verlag Rogner & Bernhard; 1990 bei Zweitausendeins). Als hervorragendster katalanischer Dichter der Avantgarde gilt J. V. Foix (Sarrià, bei Barcelona, 1893 - 1987) - der übrigens auch die Eröffnungsreden zu den ersten Ausstellungen von Joan Miró und Salvador Dalí hielt - mit seinen an Träume erinnernden Vers- und Prosagedichten in den Bänden Gertrudis (1927), Krtu (1932), Sol, i de dol (1947), Les irreals omegues (1948) und On he deixat les claus... (1953). Foixs Prosagedichte sind aus einem seit 1918 angelegten tagebuchartigen Werk, dem Diari 1918, entstanden und wurden erst 1981 gesammelt publiziert. Eine Auswahl hieraus ist 1988 auf deutsch unter dem Titel Krtu und andere Prosadichtungen (Verlag Vervuert, Frankfurt) erschienen.

Größter Theaterautor dieser Zeit war Josep Maria de Sagarra (Barcelona 1894 - 1961), der nicht nur sein Theater in Versen schrieb, sondern auch ein hervorragender Dichter war. Neben seinen über 50 Theaterstücken verfaßte er auch vortreffliche Übersetzungen fast aller Stücke Shakespeares.

Unter den Dichtern der postsymbolistischen Zeit sind besonders der bedeutendste nordkatalanische Dichter Josep Sebastià Pons (Illa de Riberal, Nordkatalonien, 1886 - 1963) mit seinen Gedichtbänden Cantilena (1937), Conversa (1950) und Cambra d'hivern (1966, Winterzimmer) hervorzuheben, ebenso Joan Oliver (Pseudonym Pere Quart: Sabadell, bei Barcelona, 1899 - 1986), der auch Theater schrieb. Auf Mallorca ragt die Figur des jung verstorbenen Bartolomeu Rosselló-Pòrcel (Palma, Mallorca 1913 - El Brull, am Montseny nördlich Barcelona, 1938) hervor, der surrealistisch anmutende Gedichte schrieb. Auf Eivissa gilt Marià Villangómez (Eivissa 1913) als gewichtigster zeitgenössischer Dichter, auf Mallorca sind es Josep M. Llompart (Ciutat de Mallorca 1925 - 1993) und Miquel Àngel Riera (Manacor 1930 - 1996) - wobei letzterer außerdem zu den hervorragendsten Prosaschriftstellern zu rechnen ist.

Es fehlt jetzt noch die Nennung der beiden bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts nach J. V. Foix: zum einen Salvador Espriu (Santa Coloma de Farners, nördlich von Blanes und Lloret, 1913 - Barcelona 1985), dessen Werk (darunter auch Erzählungen und Theaterstücke), in der düstersten Francozeit entstand und ein verzweifeltes Bekenntnis für die katalanische Sprache und die katalanische Literatur darstellt. Zu seinen überragenden literarischen Kreationen gehört übrigens der mythische Ort Sinera (ein Anagramm des katalanischen Küstenstädtchens Arenys), den er aus klassisch griechischen, lateinischen und mehr noch biblischen und jüdischen Traditionselementen heraus geformt hat. 1985 und 1986 sind zweisprachig katalanisch-deutsch seine Gedichtbände Die Stierhaut und Ende des Labyrints erschienen (beide bei Vervuert, Frankfurt; 1991 bei Piper, München).

Der andere überragende Dichter des 20. Jahrhunderts, Meister der modernen Avantgarde, ist Joan Brossa (Barcelona 1919 - 1998). Über 100 Gedichtbände und 323 poetische Theaterstücke und Minidramen umfaßt sein Werk, das Brücken schlägt bis zur visuellen Poesie und Objektpoesie. Wie ein Zauberer mischt Brossa - der übrigens ein guter Freund von Joan Miró und ein großer Anreger von Antoni Tàpies in dessen Frühphasc gewesen ist - seine Texte aus Bruchstücken von Wirklichkeit und Illusion. Postavantgardistische Vollendung erreicht er in seinen Sonetten und Sestinen.

Auch das Land València hat seit dem »Goldenen Zeitalter« des 15. Jahrhunderts, in dem das großartige lyrische Werk von Ausiàs March entstanden war, wieder einen außergewöhnlichen und produktiven Dichter vorzuweisen: Vicent Andrés i Estellés (Burjassot, bei València, 1924 - 1992). Seine erotisch freimütigen Gedichte haben ihn besonders seit den 70er Jahren berühmt gemacht. Ebenfalls aus dem País Valencià stammt der bedeutendste katalanische Essayist der Gegenwart, Joan Fuster (Sueca, bei València, 1922 - 1992), der in seinem Stil ironische Schärfe und kauzige Lässigkeit unnachahmlich verbindet. Sein berühmtestes Werk, Nosaltres els valencians (1962; Wir, die Valencianer), zeigt das katalanische Fundament und die katalanische Identität des Landes València auf. In jüngster Zeit ragt insbesondere der valencianische Erzähler Joan F. Mira (València 1939) hervor, z. B. mit seinem herkulesroman Els treballs perduts (1990), der dem Dublin von James Joyce’s Ulisses das València von heute gegenüberstellt. Im Jahr 2000 hat Mira eine beeindruckende Neuübersetzung von Dantes Divina Commedia veröffentlicht.

Auf dem Gebiet der erzählenden Prosa hat die katalanische Literatur der Gegenwart Werke von Weltrang vorzuweisen. Größte internationale Berühmtheit erreichte Mercè Rodoreda (Barcelona 1908 - Girona 1983), deren Romane und Erzählungen bisher in 12 Sprachen übersetzt vorliegen. Seit 1979 ist ein Großteil ihrer Werke auch auf deutsch erschienen (Suhrkamp Verlag, Frankfurt), darunter ihr bekanntester Roman Auj der Plaça del Diamant (1979; 1984 als Taschenbuch mit Nachwort von Gabriel García Márquez), der den Leidensweg einer jungen katalanischen Frau aus Gràcia, einem Stadtteil Barcelonas, zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs beschreibt; des weiteren der poetisch-surrealistische Prosatextband Reise ins Land der verlorenen Mädchen (1980, zweisprachig katalanisch-deutsch) sowie Der zerbrochene Spiegel (1982), ein erzählerisch interessant aufgebautes Familienepos, und Der Fluß und das Boot: Erzählungen (1986).

Der andere herausragende katalanische Romancier der Gegenwart ist der Mallorquiner Llorenç Villalonga (Ciutat de Mallorca 1897 - 1980). Seine Romane - die berühmstesten sind Mort de Dama (1931: Tod einer Dame) und Bearn (1961) - erzählen vom Niedergang der mallorquinischen Aristokratie und der traditionellen Inselgesellschaft: sie sind gleichsam großartige Detailgemälde einer zu Ende gehenden Zeit (deutsche Übersetzung im Piper-Verlag, München).

Das umfassendste katalanische Prosawerk aller Zeiten (46 Bände in der Gesamtausgabe) hat der von der Costa Brava stammende Josep Pla (Palafrugell 1897 - Llofriu 1981) hinterlassen. Alle seine Werke - auch die romanhaft gestalteten - gehören im weitesten Sinne zur Gattung Tagebuch, Porträt oder Reisebericht (als Korrespondent verbrachte Pla viele Jahre in den verschiedensten Ländern Europas). Charakteristisch für diesen Autor sind eine großartige Beobachtungsgabe und ein stilistisches Feingefühl, das selbst unscheinbarste Vorkommnisse oder Details zu sinntragenden Elementen und zu lesenswerten Sujets macht. Deutsche Übersetzungen seiner Werke, besonders der Reisebücher im engeren Sinn, beginnen gerade zu erscheinen.

Ein weiterer äußerst fruchtbarer Autor, der weit über hundert Romane geschrieben und einen Großteil davon publiziert hat, ist Manuel de Pedrolo (L'Aranyó, bei Cervera, 80 km nördlich Tarragona, 1918 - Barcelona 1990). Romantechnisch interessante Experimente sowie eine Hinwendung zu verschiedensten Themen, die er zum Teil in Zyklen organisiert hat (vgl. sein Werk Temps obert, Offene Zeit), zeichnen diesen Autor aus. Zum Bestseller der katalanischen Gegenwartsliteratur (über l Million Auflage) wurde sein Science-Fiction-Roman Mecanoscrit del segon origen (1974; Maschinenskript vom zweiten Ursprung). Ein kennzeichnendes Werk seiner frühen Schaffensphase ist das Theaterstück des Absurden Homes i No (1959; Menschen und No).

Was zeitgenössische Schriftstellerinnen anbelangt, die seit Rodoreda verstärkt das internationale Interesse wecken, so gilt Maria Aurèlia Capmany (Barcelona 1918 - 1991) als die bedeutendste unter diesen Autorinnen. Neben ihrem essayistischen Werk, das sie besonders Frauen und dem Feminismus widmete, und neben ihren Theaterstücken und ihrer Bühnentätigkeit ist sie von 1952 bis 1972 und dann wieder 1982 als Romanautorin hervorgetreten, z. B. mit Betúlia (1956), Feliçment, jo sóc una dona (1969; Zum Glück bin ich eine Frau), Quim/Quima (1971) und Lo color més blau (1982; Das tiefere Blau). Zuletzt hatte sie mehrere Memoirenbände veröffentlicht (z. B. Mala memòria, 1987).

Weitere beachtliche (Roman-)Schriftstellerinnen sind Montserrat Roig (Barcelona 1946 - 1991) - von ihr erschien 1991 auf deutsch Zeit der Kirschen bei Elster - und die beiden Mallorquinerinnen Maria Antònia Oliver (Manacor, 1946) - von der bereits zwei Romane auf deutsch erschienen sind: Drei Männer, 1989 und Miese Kerle, 1990, beide im Eichborn Verlag, Frankfurt - und Carme Riera (Ciutat de Mallorca 1948).

Einige der vielen bedeutenden Prosaautoren sind Pere Calders (Barcelona 1912 - 1994), in dessen Erzählungen und Romanen uns immer wieder das Phantastische, Ungewöhnliche, Unerwartete begegnet, Joan Perucho (Barcelona 1920), dessen Vampirroman Les històries naturals (1960) bei Hanser, München, unter dem Titel Der Nachtkauz 1990 auf deutsch erschien (1991 erschien: Ein Ritterroman), Terenci Moix (Barcelona 1942), thematisch und stilistisch das erste enfant terrible der neuen katalanischen Literatur, dessen berühmtester Roman El dia que va morir Marilyn (1969; Der Tag, an dem Marilyn starb) betitelt ist, und Quim Monzó (Barcelona 1952), der erfolgreichste unter den jüngeren Erzählern, der neurotisch-erotische Situationen in postmodernem, umgangssprachlichen Stil faßt. Auf Mallorca tritt zudem Gabriel Janer Manila (Algaida 1940) hervor, dessen Romane zwischen (mallorquinischer) Realität und Landschaften der Phantasie angesiedelt sind. Ausgezeichnet ist sein Roman La dama de les boires, der die Geschichte des Erzherzogs Ludwig Salvator auf Mallorca zum Thema hat. Viel gelesen wird auch der Schriftsteller und Journalist ist Josep M. Espinàs (Barcelona 1927), der mit seinen letzten Reisebüchern - ähnlich wie Josep Pla - durch die Fähigkeit besticht, selbst profan-alltäglichen Dingen interessante, literarische Aspekte abzugewinnen. Das reiche heutige Theaterleben Kataloniens greift sowohl auf katalanische - klassische wie aktuelle - Stücke zurück, als auch auf internationale, ins Katalanische übersetzte Klassiker. Eine besondere Bedeutung haben ferner eine ganze Reihe von Theaterensembles, die ihre Stücke selbst schreiben; manche unter ihnen erlangen - dank der Unterordnung des Wortes unter die Gestik - mehr und mehr auch internationale Bekanntheit, so z. B. Albert Boadellas Theatergruppe Els Joglars, des weiteren Els Comediants und La Fura dels Baus.

Zum Abschluß bleibt nun noch die jüngere Generation katalanischer Lyriker zu erwähnen, als deren Vorläufer Gabriel Ferrater (Reus 1922 - Sant Cugat del Vallès 1972) angesehen wird. Stellvertretend für viele weitere Dichter stehen Albert Ràfols Casamada (Barcelona 1923), einer der bedeutendsten Maler nach Tàpies und Dichter, Miquel Martí i Pol (Roda de Ter, bei Vic, 1929), der volkstümlichste und meistgelesene Dichter, sowie Feliu Formosa (Sabadell 1934), der speziell auch als Vermittler von Brecht und von deutscher Literatur nach Katalonien hervortrat.

Damit sind wir am Ende dieses auf das Wesentlichste konzentrierten Überblicks über die bedeutendsten Autoren und Werke der katalanischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart - einer Literatur, die schon im Mittelalter hochbedeutend war und in unserer Zeit (nach Überwindung der Repression alles Katalanischen unter der Franco-Diktatur) hohe internationale Qualität und eine wiedererstarkte Vitalität aufweist, die für die Leser außerhalb des katalanischen Sprachbereichs noch manche Überraschung ersten Ranges bereithält und einen überaus interessanten Beitrag zur Vielfalt europäischer literarischer Kultur leistet.

Bibliographie:
Kindlers Neues Literatur Lexikon, München; von 1988 bis 1998 erschienen 22 Bände mit über 150 Artikeln zur katalanischen Literatur. — Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, Tübingen: Francke Verlag 2002 (UTB 1373); in 75 Artikeln stehen Bemerkungen oder ausführlichere Beiträge zur katalanischen Literatur. — Johannes Hösle: Die katalanische Literatur von der Renaixença bis zur Gegenwart, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1982. — Martí de Riquer, Antoni Comas, Joaquim Molas: Història de la literatura catalana, 11 Bände, Barcelona: Ariel 1984 - 88; die überragende und maßgebliche Literatur-geschichte. — Zeitschrift für Katalanistik l (1988) bis 14 (2001), Frankfurt: TFM – Teo Ferrer de Mesquita. Lesenswerte Anthologien: Johannes Hösle, Antoni Pous (Hrsg.): Katalanische Lyrik im zwanzigsten Jahrhundert. Eine Anthologie (zweisprachig katalanisch-deutsch), Mainz: v. Hase & Koehler, 1970. — Katalanische Erzähler, Zürich: Manesse, 1978. — Tilbert Stegmann (Hrsg.): Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts (zweisprachig), mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tàpies, Leipzig: Reclam, München: Beck, Frankfurt: Büchergilde Gutenberg, 1987. — Und laß als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer und vierzehn weitere Erzählungen aus dem Katalanischen, Frankfurt: Vervuert, 1988 und München: Pieper, 1991. — Paisatges de Catalunya / Landschaften Kataloniens, hrsg. v. Joaquim Molas, Barcelona: Generalitat de Catalunya, 1990. — Die Spezialität des Hauses. Neue katalanische Literatur, hrsg. v. Roger Friedlein u. Barbara Richter, München: Babel Verlag, 1998.